To Kill a Heart: Huntress - Kapitel 1

Warum versuchten sie immer wieder, mir zu entkommen? 

Mit einem Keuchen kam ich auf dem Boden auf und riss den Kopf hoch. Wenige Schritte vor mir entdeckte ich die dunkel gekleidete Gestalt, die sich durch die Menge drängte und im Getümmel verschwand. Glenn. Ein stechender Schmerz in den Fußsohlen erinnerte mich daran, dass der Sprung vom Fenstersims nicht ohne Folgen geblieben war. Aber ich konnte nicht darauf achten – ich durfte ihn nicht entkommen lassen. 

Ich verschwendete keine Zeit, zu Atem zu kommen, sondern nahm die Verfolgung auf. Die knappen Mantelschöße wehten hinter mir her, als ich auf die Menschen zueilte, die sich zwischen den Häusern drängten. Mit den Ellbogen bahnte ich mir einen Weg durch sie hindurch. Ein Blick in meine Richtung reichte, damit sie ihre Empörung schnell hinunterschluckten. Mit unsereins legten die normalen Bürger sich nicht an. Wenn möglich, mieden sie jeglichen Kontakt, und schon gar nicht würden sie freiwillig einen Streit provozieren. Den Rest des Weges wichen sie mir aus. 

Endlich bog ich mit wehendem Haar um die Ecke. Kiesel knirschten unter meinen Stiefeln, als ich die Fersen in den Boden grub und abrupt stehen blieb. Von Glenn war keine Spur mehr zu sehen. Der Waffenhändler war wie vom Erdboden verschluckt. Ich verkniff mir den Fluch, der mir auf den Lippen lag. Letzten Endes konnte das hier nur auf eine Weise ausgehen. Er hatte keine Chance, mir zu entkommen. Niemand war mir je entkommen. Unheilvoll spürte ich den Druck der kalten Messerklinge gegen meinen Unterarm, wo ich sie in den Ärmel geschoben hatte, aber ich zwang mich, das lähmende Gefühl abzuschütteln, das in mir aufstieg. Jetzt war nicht der richtige Augenblick für Selbstvorwürfe. Jetzt war Strategie gefordert. 

Ein schneller Blick verriet mir, dass ich nicht weit kommen würde, wenn ich weiter zwischen den Häusern herumirrte. Die Straßen von Avos waren unübersichtlich und verwinkelt, und in diesem Augenblick brauchte ich eine Position, aus der ich einen Vorteil gegenüber Glenn hatte.

Eine Idee zuckte mir wie ein Blitz durch den Kopf. Die Dächer. Die Hauswand neben mir war von dichtem Rosengewächs überwuchert, das stabil genug wirkte, um mein Gewicht zu tragen. Und die Mulden zwischen den Backsteinen boten genug Raum, um mich daran festzuhalten. Die Wand zu erklimmen, kostete mich nur einen Fingernagel und ein Stück meines Mantels, der zwischen den Dornenranken hängen blieb und schließlich mit einem scharfen Reißen nachgab. Ich scherte mich nicht weiter darum. Wenn ich Glenn einholte, konnte ich mir den gleich fünfmal ersetzen. 

Als ich mich über die Traufe auf das Dach hinaufgezogen hatte, ließ ich den Blick über die Häusergiebel schweifen. Er konnte nicht weit gekommen sein. Die Wunde, die ich ihm vor einer halben Stunde in seiner Wohnung zugefügt hatte, musste ihn verlangsamt haben. Der arme Kerl hatte nicht gewirkt, als habe er ein festes Ziel vor Augen, als er kopflos aus der Tür gestürzt war ... Etwas weiter die Straße hinunter, in der ich ihn verloren hatte, ballten sich die Passanten. Bunt und geschäftig schwirrten sie durcheinander und sahen von hier oben aus wie ein Flickenteppich aus verschwommenen Farben. Ich wusste instinktiv, dass Glenn sich unter sie gemischt haben musste, aber das Treiben war zu wirr, um ihn auf Anhieb darin entdecken zu können – genau, was er gewollt hatte. Aber ich weigerte mich, aufzugeben. Stattdessen ging ich in die Hocke, kniff die Augen zusammen und suchte die Menge unten am Boden ab.

Plötzlich nahm ich etwas aus den Augenwinkeln wahr. Eine verhüllte Gestalt mit Kapuze bewegte sich schneller als die anderen zwischen den vielen Menschen, hastete verbissen vorwärts und hielt den Kopf gesenkt. Ich hätte ihn vermutlich übersehen, hätte er mit seinem groben Drängeln durch die Menschen nicht so einen erkennbaren Aufruhr in der Masse verursacht – wie die Kreise eines Kieselsteins, den man ins Wasser geworfen hatte. 

Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht, ohne dass ich es verhindern konnte. Hab dich. Vielleicht war es falsch, aber wenn man nur in einem wirklich gut war, kam dabei irgendwann unausweichlich ein Hochgefühl. Und ich wusste, dass mich die Schwermut heute Abend noch früh genug einholen würde, in der Stille meines Zimmers, wenn die Dunkelheit vor den Fenstern hing. 

Die Ziegel waren glatt unter mir, als ich darüber hinweg rannte und den Rand des Daches erreichte. Natürlich gab es keine Leiter oder ein Regenrohr, das mir den Abstieg erleichtert hätte. 

Dann eben anders. 

Ich ließ mich liegend die Dachschräge hinuntergleiten, bis ich am unteren Rand die Traufe zu fassen bekam. Dann rutschte ich das letzte Stück über die Kante in die Tiefe. 

Mein fester Griff an der Regenrinne stoppte den Fall abrupt. Der Ruck ließ meine Schultergelenke laut protestieren, und die harte Metallkante schnitt in das abgewetzte Leder meiner Handschuhe. 

Ich beugte den Kopf zurück, um nach unten zu sehen, vorbei an meinen in der Luft baumelnden Beinen. Die gepflasterte Straße lag noch Meter unter mir. Den Sprung würde ich nicht unverletzt überstehen, aber ich fand immer einen Weg. 

Direkt unter mir lag eine Fensterbank. Ich tastete mit den Fußspitzen danach. Dann hielt ich die Luft an, bevor ich losließ. Nach wenigen Sekundenbruchteilen trafen meine Füße auf festen Stein. Der Schwung ließ mich in die Knie gehen, aber ich stürzte nicht ab. Jetzt bloß nicht das Gleichgewicht verlieren. Ich presste mich eng an das Fenster im ersten Stock und atmete flach. 

Glenn tauchte plötzlich in der Gasse unter mir auf. Jegliche Gedanken in meinem Kopf verflogen, als ich ihn entdeckte. Ich sprang von der Fensterbank auf die gegenüberliegende Hauswand zu und stieß mich von ihr ab, bevor ich schließlich am Boden landete. Obwohl ich in die Knie ging, um den Schwung abzufedern, zuckte ein blitzartiger Schmerz durch meine Gelenke. 

Glenn schien für eine Sekunde wie eingefroren, als ich aus dem Nichts vor ihm landete. Sein Blick zuckte von mir zu seinen geballten Fäusten. 

Beinahe hätte ich laut gelacht. Er mochte mein doppeltes Gewicht haben und mich um mehrere Köpfe überragen, aber besiegen konnte er mich im Zweikampf trotzdem nicht. 

Offenbar wurde ihm das im selben Moment klar, denn er machte plötzlich kehrt und stürzte panisch den Weg zurück, den er gekommen war. 

Das schmale Messer rutschte wie von selbst aus meinem Ärmel in meine offene Hand. Ohne zu zögern schleuderte ich es in seine Richtung. Haarscharf schnitt es an seinem Bein vorbei und prallte gegen die Steinmauer hinter ihm, bevor es klirrend zu Boden fiel. Vor meinem inneren Auge sah ich Warden das Gesicht in den Händen vergraben. 

Ich hörte Glenn aufkeuchen, bevor er ausrutschte und zu Boden ging. Mit langsamen, bedrohlichen Schritten kam ich auf ihn zu – und erstarrte mitten in der Bewegung.

Während Glenn hastig rückwärts gerobbt war, war sein linker Ärmel bis zum Ellbogen hochgerutscht. Auf der gebräunten Haut entdeckte ich unsaubere, schwarze Tintenlinien, die, ihrer Unschärfe nach zu urteilen, bereits einige Jahre alt zu sein schienen. So sehr ich es auch wollte, es gelang mir nicht, mich davon abzuwenden. Das tätowierte Auge auf seinem Unterarm starrte mich unverhohlen an.

Glenn Degon, ein Waffenhändler im Untergrund, hatte Warden mir gesagt, als ich den Auftrag angenommen hatte. Was sie offenbar vergessen hatte zu erwähnen, war, wen er mit Waffen belieferte. Und das Tattoo lieferte mir die eindeutige Antwort.

Es war kein Geheimnis, dass die Hetzjagd des Fürsten in Crelya nicht nur auf Zustimmung stieß. Zwar war die Meinung weit verbreitet, dass es der Sicherheit der Bevölkerung zugutekam und diese Opfer nötig waren. Aber die Verfolgung und Auslöschung jeglicher Kinder Thoyens hatte ebenso Familien, Geschäfte und eine Menge Vertrauen zerstört. Und beinahe zwei Jahrzehnte der Verfolgung waren mehr als genug Zeit, um diesen Verdruss über den Fürsten zu nähren, bis daraus etwas gewachsen war. 

Jeder wusste in diesen Tagen von der versteckten Bewegung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, gegen den Fürsten zu rebellieren. Aber niemand wagte es, laut darüber zu sprechen. Sie waren dafür bekannt, sich bemerkbar zu machen, wo immer es möglich war – sie griffen Soldaten des Fürsten an, brachen in Gefangenentransporte ein und hinterließen Zeichen und Symbole, die es dem Fürsten unmöglich machten, ihre Existenz zu leugnen.

Zeichen wie dieses Auge.

Anfangs, als vor einigen Jahren erstmals Getuschel darüber aufgekommen war, hatte man diese Dinge nur für Gerüchte gehalten. Aber rasch war klargeworden, dass mehr dahinter steckte. Irgendwo im Untergrund und in ihrer Zusammensetzung völlig unbekannt existierte eine Rebellion.

Und Glenn gehörte offenbar dazu. 

Die Gedanken rasten durch meinen Kopf, während ich versuchte, diese neuen Erkenntnisse einzuordnen. Meine Auftraggeber mussten davon gewusst haben – mehr noch, es musste ihr Grund für das Kopfgeld gewesen sein. Ich hatte sie für Rivalen des Waffenhändlers gehalten oder vielleicht Leute, die von seinen Geschäften geschädigt worden waren. Aber scheinbar hatte ich damit falschgelegen.

Meine Klienten hatten gewusst, dass es sich bei Glenn um jemanden handelte, der Geschäfte mit den Rebellen machte – und sie mussten auch gewusst haben, dass ich mich geweigert hätte, den Auftrag anzunehmen, wenn ich von diesem Detail gewusst hätte. Normalerweise hielt ich mich von derartigen Angelegenheiten fern. Alles, was mit der Herrschaft des Fürsten zu tun hatte, war ein sicheres Rezept für Selbstmord – egal, auf wessen Seite man sich dabei stellte. Ich wollte nichts damit zu tun haben.

Und doch stand ich jetzt hier. Mein Blick war noch immer auf die Tätowierung gerichtet, und auch Glenn hatte inzwischen bemerkt, dass ich abgelenkt war. Sofort rappelte er sich auf und stürzte davon. 

Ich blinzelte und schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen, Odelia. Mit einem Ruck befreite ich mich aus meiner Starre und setzte ihm nach. Das vertraute Adrenalin sprudelte sofort durch meinen Körper und versetzte mich in einen altbekannten Rausch. Meine Beine trugen mich wie im Flug und mit traumwandlerischer Sicherheit über das Pflaster. Mein Herz trommelte wie wild in meiner Brust. Vergiss die Rebellion für einen Augenblick, befahl ich mir eindringlich. Was zählte, war meine Arbeit zu erledigen. 

Glenn schlug einen Haken um eine Ecke und ich folgte ihm dicht auf den Fersen. 

Die Straßen waren nicht so verlassen, wie ich es mir gewünscht hätte. Mit zusammengebissenen Zähnen pflügte ich durch die Menge und wich den Passanten aus, die er mir in den Weg stieß. Mein Atem ging stoßweise, aber ich spürte, wie das Adrenalin meine Adern flutete und mich mit neugewonnener Kraft füllte. Meine langen, dunkelbraunen Haare peitschten mir ins Gesicht, als ich an Tempo gewann.

Glenn hetzte die Gasse weiter entlang, das Gesicht gerötet und verzerrt. Immer wieder musste er sich an den Wänden abstützen. Die Blumentöpfe auf den Fensterbänken links und rechts von ihm stürzten reihenweise zu Boden und zerschellten auf dem Pflaster. 

Die Scherben sprangen mir vor die Füße und unter die Sohlen meiner Stiefel. Ich fluchte, als ich darauf ausrutschte und ins Straucheln geriet. Kurz bevor mein Kopf mit dem Boden kollidierte, hob ich die Arme reflexartig und rollte mich ab. Die scharfen Tonkanten schnitten mir selbst durch den Stoff meiner Kleidung in die Haut, aber ich schüttelte die staubigen Splitter bloß ab, dann rannte ich weiter. Der Schmerz drang nur dumpf durch den Schleier des Adrenalins.

Ich sah, wie Glenn vor mir ein Haus ansteuerte, an der eine Treppe aus Lehm entlang bis aufs Dach führte. Mit schnellen, kurzen Schritten floh er die Stufen hinauf. Dabei presste er den linken Ellbogen fest in die Seite – die Wunde machte ihm zu schaffen.

Eine grimmige Zufriedenheit machte sich in mir breit. Nicht mehr lange, dann hatte ich ihn. Ich erwog, mein letztes Messer nach ihm zu werfen, aber ohne anzuhalten – was nicht infrage kam – würde ich ihn nicht treffen. Der Blutverlust musste ihn bereits genug geschwächt haben, um ihn einzuholen. 

Ich raste die Stufen hinter ihm hinauf. Die Flachdächer der Häuser lagen direkt nebeneinander, sodass es ein Leichtes für mich war, von einem zum nächsten zu gelangen.

Leider war es das auch für Glenn. Abwechselnd sprangen wir auf niedrigere Dächer herunter und stemmten uns an höheren wieder hoch. 

An einer besonders groß aufragenden Mauer warf er die Arme darüber und klammerte sich fest, zu schwach, um sich aus eigener Kraft daran hochzuziehen. Einige Sekunden lang hing er dort, während seine Füße verzweifelt an dem Stein entlang scharrten, bis er endlich Halt fand, sich abstieß und über die Kante zog. 

Ich erreichte die Wand nur Sekundenbruchteile nach ihm und rammte die Stiefelspitzen in die Steinkerben. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung beförderte ich mich nach oben, wo ich den Rand der Mauer packte und ein Bein darüber schwang. Ich ächzte, als sich die Schnitte in meinen Unterarmen heiß brennend bemerkbar machten. 

Überanstreng dich nicht, warnte mich eine innere Stimme. Du kannst es dir nicht leisten, hier einen Anfall zu erleiden. 

Ich biss die Zähne zusammen, um die Stimme zum Schweigen zu bringen, und hievte mich das letzte Stück nach oben. 

Vor mir setzte Glenn über eine schmale Kluft zwischen zwei Gebäuden hinweg und kam strauchelnd auf, bevor er sich fing und mit fliegenden Gliedmaßen weiter hetzte. 

Ich war froh, dass sein Sprung mich vorgewarnt hatte, denn der Abgrund tauchte schneller als erwartet vor mir auf. Innerlich stieß ich einen Fluch aus. Ich war alles andere als in Bestform: Ein trüber Nebel waberte durch meinen Kopf und machte es mir schwer, klar zu denken. 

Die verdammten Tabletten. Ich hätte heute Morgen darauf verzichten sollen

Erst in letzter Sekunde hechtete ich über den Abgrund hinweg, kam hart auf und preschte mit dem Schwung im Rücken weiter. Glenn hatte noch immer einen viel zu großen Vorsprung. Ich spannte meine Muskeln an und rannte schneller. Die Häuserdächer rechts und links von mir flogen vorbei, während ich starr nach vorne blickte, den Kiefer angespannt. Ich mobilisierte meine letzten Kräfte und ignorierte das Brennen in meinen Muskeln, als ich zu Glenn aufholte. 

Er drehte immer wieder den Kopf zu mir herum. Düstere Befriedigung ergriff von mir Besitz, als mir klar wurde, dass er es nicht schaffen würde. Ich wollte mich gerade bereit machen, endgültig zu ihm aufzuschließen, da griff er mit flatternden Händen in die Innenseite seiner Jacke, holte etwas heraus und warf es mir mitten im Lauf vor die Füße. 

Zu spät erkannte ich, was es war.

»Verdammt!« Ich fluchte und warf mich zur Seite hinter einen Schornstein – keine Sekunde zu früh. 

Kies und Dreck spritzten auf, als das Explosiv mit einem Knall auf dem Dach zerbarst und gegen die Rückseite des Schornsteins prasselte.

Ich kniff die Augen zusammen, als mich die Wolke aus aufgewirbeltem Staub umfing. Hastig riss ich mir den Stoff meines Mantels vor Mund und Nase, bis der Dunst sich gelegt hatte. Dann erst wagte ich es, hinter dem Schornstein hervorzuspähen, den Rücken noch immer gegen die Steine gepresst.

Glenn balancierte längst in weiter Ferne über die Häuserdächer. Ich würde ihn unmöglich wieder einholen können.

Als ich die Fäuste ballte, spürte ich die Steinchen, die sich in meinen Handschuhen gesammelt hatten und sich in meine Haut gruben. Mein Mantel war vollkommen ruiniert. An den Ellbogen war der Stoff von meinem unsanften Sturz aufgescheuert und zerrissen, und eine dicke Dreckschicht hatte sich in die Fasern gegraben. Dieser Dreckskerl – jetzt schuldeteer mir den neuen Mantel. 

Ich hätte damit rechnen müssen, dass er Sprengkörper mit sich herumschleppte. Zwar hatte Warden mir nicht gesagt, dass Glenn die illegalen Waffen, die er verkaufte, auch bei sich trug – aber scheinbar hatte sie mir auch so einige andere Dinge vorenthalten. 

Ein bitterer Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus, als ich erneut an seine Augentätowierung dachte. Man hätte mich verdammt nochmal aufklären müssen, dass er für die Rebellion arbeitete. Ich hätte mich anders vorbereitet, wäre anders an die Sache herangegangen ...  

Andererseits: Wenn ein Kopfgeld auf jemanden ausgesetzt war, war er keiner von den netten Leuten. Das war der Leitsatz, an den ich mich klammerte, wenn jemand meine Dienste in Anspruch nahm. Es ging mich nichts an, welche Rachegelüste meine Auftraggeber hegten – wenn sie es vergeigt hatten, hatten sie es vergeigt. Ich war nur diejenige, die es zu Ende brachte. Ohne Fragen, ohne zu zögern – das gehörte zu meinem Job. 

Eine eiserne Faust schloss sich bei dem Gedanken an Warden um meinen Brustkorb. 

Ich rappelte mich trotz des Klingelns in meinen Ohren auf und kam hinter meiner Deckung hervor – zu spät. 

Glenn hatte sicheren Abstand zwischen uns gebracht und stand schwankend auf einem Schrägdach in der Ferne, von wo aus er mich mit blutunterlaufenen Augen anstarrte, die Hand in die Seite gepresst. Dann machte er kehrt und lief davon, so schnell es der unebene Untergrund unter seinen Füßen zuließ. So ein verdammter Mist. Aber Glenn war direkt vor mir auf dem gegenüberliegenden Hausdach, in freier Wurfbahn, ohne Hindernis oder Zivilisten zwischen uns …

Reflexartig glitt meine Hand zu dem Messer an meiner Hüfte. Dafür war ich ausgebildet worden, jetzt wäre die Gelegenheit, ihn zu erwischen – aber als ich die Hand an den Griff legte, erstarrte ich. Auf die Entfernung könnte es – würde es – ein tödlicher Treffer sein, das wusste ich. 

Warden hätte keine Sekunde gezögert. Das ist deine Chance, Odelia!, hörte ich sie ihn meinem Kopf sagen. Seinem Auftraggeber ist es egal, wie du ihn erwischst. Hauptsache, du erwischst ihn.

Es war die einzige Möglichkeit, die ich noch hatte. Ich sah, wie Glenn über das Hausdach strauchelte, verzweifelt, das Gleichgewicht im Angesicht des gähnenden Abgrunds zu halten. Ich müsste nur genau zielen und hätte mein Geld in der Tasche. Alles andere konnte mir egal sein. 

Meine Finger schlossen sich fester um den schmalen Messergriff. Jetzt oder nie. Glenn kämpfte sich langsam, aber sicher zum Dachrand vor. Von dort aus würde er die Feuerleiter nach unten klettern können und auf Nimmerwiedersehen im Gedränge verschwinden … 

Ich stellte mir vor, wie sich die Spitze meines Messers in seinen Rücken graben würde. Mein gehobener Arm spannte sich, das Messer lag ruhig in meinen Fingern. Nur eine schnelle Bewegung aus dem Handgelenk und … 

Die Schnittwunden an meinen Unterarmen brannten wie verrückt. Ich dachte an die Tattoos. Jedes Einzelne, tausend Nadelstiche in meiner Haut. Es könnte so einfach sein. Aber ich war wie erstarrt. 

Regungslos sah ich zu, wie Glenns aschblonder Haarschopf hinter der Dachkante aus meinem Blickfeld verschwand. 

Mit einem erschöpften Stöhnen sackte ich auf dem Dach zusammen. Ich stieß den Arm mit dem Messer frustriert nieder. Die Klingenspitze bohrte sich neben mir ins Dach, wo sie mit einem dumpfen Vibrieren steckenblieb. Einige Sekunden lang verharrte ich und lauschte dem Summen, bis es im Rauschen des Nachmittagswindes verklungen war. 

Schließlich zwang ich mich und meinen geschundenen Körper auf die Füße. 

Ich hatte mit Warden zu reden.

Als ich wieder aufrecht stand, schwankte die Welt für einen kurzen Augenblick. Ich kämpfte gegen den Schwindel an und musste mich abstützen, woraufhin sofort ein blitzartiges Stechen durch meine Glieder jagte – so gleißend und peinigend, dass ich aufkeuchte. 

Ich hatte wirklich gehofft, dass ich es nicht übertrieben hatte – dass ich dieses Mal davonkommen könnte. Aber die Schmerzen in meinen aufgeschlitzten Armen wurden unerträglich und schienen förmlich in den Rest meines Körpers auszustrahlen. Dann stieg mir der Geruch von Kupfer in die Nase.

Mein Herz begann zu rasen.

 Die Welt klang augenblicklich wie in dicke Watte gepackt. Ich versuchte, durch den dichten Dunst um mich ins Licht zu blinzeln, aber als ich die Lider hob, wurde mir schwarz vor Augen. Plötzlich war es siedend heiß und ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Alles, was ich spürte, war ein aufkeimendes Gefühl der Unruhe, das immer stärker wurde und immer näher kam, als säße mir etwas Furchtbares im Nacken.

Desorientiert versuchte ich, mich gegen den Schornstein zu lehnen. Mit einem Mal jagten beißende Schmerzen meine Arme hinauf, als würde sich eine stumpfe, rostige Klinge tief in die Haut graben. Ich sank zu Boden. Die Schmerzen rollten wie eine unaufhaltsame Welle durch meinen Körper und brachen über mir zusammen – jegliche Bewegung war unmöglich. Kein Schrei kam über meine Lippen, als ich spürte, wie sich alle Muskeln in meinem Körper so heftig verkrampften, dass es wehtat. Es passiert wieder

Dann wurden all meine Gedanken grob beiseite gestoßen.