Court of Winter - Kapitel 1

»Das ist ein gutes Brot, meinst du nicht, Ilara?« Meine Schwester Cailis hielt mir einen Laib hin, den ich begutachten sollte.

Die Kruste war hart und das Brot wahrscheinlich mehrere Tage alt. Ein paar Schimmelflecken verfärbten den Boden, aber mit einem scharfen Messer konnte man sie abschneiden. Der Rest sah essbar aus.

Ich nickte. »Ja. Lass es uns nehmen.«

Cailis legte das Brot in unseren Korb, zu den wenigen anderen Dingen, die wir auf dem Erntemarkt in Firlim unter den aussortierten Waren gefunden hatten.

Leichter, kristalliner Schneestaub wehte durch die Luft. Schillernde Flocken bedeckten die Vordächer der Verkäufer mit einer feinen Schicht aus Schnee, die an weiße Spitze erinnerte.

Die heutige Auswahl war dürftig, so wie es in letzter Zeit oft der Fall war. Aber wenn wir die richtigen Zutaten auswählten, würden wir genug haben, um unsere Mahlzeiten diese Woche abwechslungsreicher zu gestalten.

Mein Magen knurrte. Mutter unter der Erde, wie ich mich auf das Abendessen freute. Wir hatten heute noch nicht gegessen.

Da die ermäßigten Nahrungsmittel auf dem Markt in Säcken und Eimern auf dem Boden lagen, mussten wir uns ständig bücken. Als ich mich dem Rand des Verkaufstisches näherte, streifte der Mantel einer Frau vom Nachbarstand mein Gesicht. Sie wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass ich da war.

 »Sie sterben, alle«, zischte die Frau ihrer Freundin zu. »Sie sagen, dass auf ihren Feldern nur noch schwarze Halme und grauer Dreck sind.«

Ich legte den Kopf schief, blieb aber in der Hocke.

»Papperlapapp, du gibst zu viel auf Gerüchte.« Die Freundin der Frau schnappte sich einen warmen Schal vom Tisch des Verkäufers, während weiterhin durchsichtige Schneeflocken vom Himmel fielen.

»Es ist wahr.« Die erste Frau setzte sich einen Hut auf. Ein paar Schneeflecken fielen auf den breiten Rand, der die Enden ihrer spitzen Ohren verdeckte. »Die gesamte Ernte ist verloren. Ich habe gehört, dass das gesamte Isalee-Gebiet befürchtet, diesen Winter zu verhungern.«

Die andere Frau schnaubte. »Das sind alles nur Gerüchte. Gibt da nichts drauf. Die himmlischen Vorgänge sorgen dafür, dass das Land fruchtbar bleibt.«

»Es ist kein Gerücht. Es ist wahr!« Ihre Freundin stemmte die Hände in die Hüften und ihre Flügel spannten sich vor Ärger auf. »Weder der Komet von Safrinite noch die Angleichung haben die Magie unseres Kontinents wieder hergestellt. Wir sind von den Göttern vergessen worden und deshalb sterben unsere Ernten. Warte nur ab. Wir werden alle verhungern.«

Ich richtete mich so schnell auf, dass mir die Kapuze meines Umhangs vom Kopf fiel. Ich versuchte, sie wieder hochzuziehen, aber die beiden Frauen erstarrten, als sie meine Haare sahen.

»Was habt ihr über Isalee gehört?«, fragte ich eindringlich und ignorierte ihre schockierten Blicke, als sie meine einzigartige Haarfarbe bemerkten.

Beide beäugten meinen flügellosen Rücken, dann wandten sich ihre Blicke wieder meinen Haaren zu. Die erste Frau wich zurück und zog ihre Freundin mit sich.

»Bitte«, sagte ich in einem sanfteren Ton und machte einen Schritt auf sie zu. »Sagt es mir.«

Ich öffnete den Mund, um mehr zu fragen, um zu sehen, was sie noch wussten, aber sie schüttelten beide den Kopf und machten das Zeichen der göttlichen Mutter, bevor sie davonhuschten.

In meinem Magen bildete sich ein Loch, aber nicht wegen ihrer offensichtlichen Abneigung. Mein Bruder Tormesh hatte uns im letzten Sommer das Gleiche über die Ernte erzählt, als er nach seinem Marsch mit der Solis-Garde nach Hause zurückgekehrt war. Er hatte behauptet, dass die Ernte im Isalee-Gebiet verdorrt war, weil das Orem unseres Landes während des letzten himmlischen Vorgangs nicht erneuert worden war.

Bei der Erinnerung an das Gesicht meines Bruders kniff ich die Augen zusammen und ein vertrauter Schmerz brachte meine Brust dazu, sich zusammenzuziehen.

Ein Finger stieß mich in die Seite und ich wirbelte herum, wobei ich diesmal die Kapuze meines Mantels festhielt.

»Haben sie eben von toten Pflanzen gesprochen?«, fragte Cailis leise.

»Ja. Sie haben dasselbe gesagt wie Tormesh.«

Ein besorgter Ausdruck glitt über ihr Gesicht, aber dann nickte sie in Richtung meines Umhangs. »Ich sage dir immer wieder, dass du ihn mit Klammern sichern sollst.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich war heute Morgen in Eile. Außerdem kann ich nichts dafür, dass ich anders und unbrauchbar bin. Wenn einige Fae mich dafür verurteilen, was kann ich dann schon tun?«

Zugegeben, auch Unbrauchbare hatten Flügel. Warum die Mutter mich nicht mit ihnen gesegnet hatte, wusste ich nicht. Aber keine Solis-Fae hatte schwarzes Haar. Alle anderen hatten weißes oder silbernes Haar, nicht pechschwarz wie meins.

Ich trat näher an meine Schwester heran. »Sind wir fertig? Ich bin mir nicht sicher, ob wir genug Rulibs haben, um das alles zu bezahlen.« Ich hielt ihr unseren vollen Korb hin.

Cailis runzelte die Stirn, als sie unsere Auswahl betrachtete. »Das Brot sollte mindestens eine Woche reichen, wenn wir nicht mehr als eine Scheibe am Morgen essen. Und das Eingemachte ist zwar alt, aber es sieht noch gut aus.«

»Was ist mit Fleisch? Haben wir genug für ein Stück?«

Cailis zog Münzen aus ihrer Tasche und zählte sie sorgfältig. »Bei dem, was es heute kostet, können wir uns eine halbe Scheibe leisten. Sollen wir uns das gönnen?«

Ich nickte. »Wir könnten es mit den Radieschen essen, die ich letzte Woche geerntet habe, und ich schätze, die Kartoffeln werden inzwischen auch groß genug sein. Wenn wir sie kochen und ein bisschen Grünzeug dazugeben, können wir endlich mal unseren Hunger stillen.«

»Dank der Mutter, dass dein Garten so gut gedeiht. Wenn das so weitergeht, sollten wir den Winter überstehen können, solange wir sparsam sind.«

»Es wird so weitergehen.« Ich nickte in Richtung des Fleisches, das am Vordach des Standes hing. »Kaufen wir es also?«

Cailis grinste, zeigte dann auf einen der dicken Braten und bat den Verkäufer, eine halbe Portion abzuschneiden.

Der Verkäufer schüttelte den Kopf. »Er ist bereits verkauft. Ich habe nichts mehr, was ich euch verkaufen kann.«

Meine Schwester runzelte die Stirn. »Das ist eine Lüge.«

Die Lippen des Verkäufers spitzten sich und Verärgerung huschte über sein Gesicht.

»Die Neigung meiner Schwester ist Wahrheit«, erklärte ich schnell. »Vielleicht hast du ihre Frage missverstanden. Wir würden gern ein Stück Fleisch kaufen.«

Aber die buschigen Augenbrauen des Verkäufers zogen sich noch mehr zusammen und er verschränkte die Arme. Als Nächstes betrachtete er meinen flügellosen Körper, dann wandte er sich ab. »Wir bedienen hier keine Unbrauchbaren.«

Oh. Mein Mund öffnete sich und ich wurde rot.

Auch Cailis’ Wangen röteten sich. »Gibt es einen guten Grund, warum nicht? Wir haben Rulibs.« Sie hielt ihm eine Hand mit Münzen hin.

Die verächtliche Miene des Verkäufers vertiefte sich. »Haut ab. An Leute wie sie verkaufe ich nicht.«

Wärme breitete sich auf meiner Brust aus und ich kämpfte darum, meinen Kopf nicht sinken zu lassen.

Cailis ließ unseren vollen Korb auf seinen Tisch krachen und der Inhalt fiel heraus. »Gut. Mit Leuten wie dir wollen wir sowieso nichts zu tun haben.«

Sie packte mich am Arm und zog mich schnell weg. Aber er war schon der dritte Verkäufer auf dem Markt, der uns in dieser Saison abgewiesen hatte. Obwohl Firlim viel größer war als unser Dorf, war ich unvorsichtig geworden. Ich musste darauf achten, dass meine Kapuze immer oben blieb, damit die Einheimischen hier unsere Gesichter nicht erkannten.

»Es tut mir leid«, sagte ich leise zu meiner Schwester, während sie uns vom Markt wegführte.

»Kein Grund dazu. Dieser ignorante Mistkerl. Du hast nichts falsch gemacht und nicht jeder ist wie er. Manche haben mehr Verständnis für deinen Zustand.«

Doch trotz ihrer Beteuerung hörte ich das Geräusch ihres knurrenden Magens deutlich.

Ich spielte mit meinen Fingern herum. Wir hatten den Rand des Marktes erreicht und unser Tempo verlangsamte sich. Unter meinen Nägeln verkrustete sich ständig Schmutz, nicht nur von der Gartenarbeit, sondern auch von unserer Tätigkeit auf den Feldern. Es war harte Arbeit, aber sie sorgte dafür, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten und genug Geld verdienten, um nicht völlig zu verhungern – obwohl wir im letzten Winter kurz davor gewesen waren.

Leicht nervös hob ich das Kinn und versuchte, nicht an unseren missglückten Einkauf zu denken oder an das, was ich von den beiden Frauen gehört hatte. Sicherlich würden die Götter nicht zulassen, dass wir verhungerten, schließlich hatten sie es unserem Volk erst ermöglicht, den nördlichsten Kontinent unseres Reiches zu besiedeln. Die Magie unseres Landes hatte uns trotz des eisigen Klimas immer satt gemacht.

Aber die Warnung meines Bruders im letzten Sommer war wie Flügelschläge, die meinen Geist aufwirbelten. Vielleicht sollte ich zum Rat gehen. Sie sagen, dass der König mir nicht zuhören wird.

Ich unterdrückte den Schmerz, der sich jedes Mal in meiner Brust ausbreitete, wenn ich an Tormesh dachte, und wischte die Kommentare der beiden Frauen ein- für allemal beiseite.

So ein Gerede würde nichts Gutes bringen. Cailis und ich wussten das nur zu gut.

Als wir den Rand der Stadt erreichten, legte ich meinen Arm um Cailis. Wir waren gleich groß, also war es bequem, so nebeneinander zu gehen.

»Danke, dass du auf dem Markt zu mir gestanden hast.«

Sie tätschelte meine Hand. »Immer. Du weißt, was ich von Leuten halte, die andere schikanieren.«

Ich blickte nach unten und zupfte noch einmal unruhig an meinen Fingern.

»Hat Vorl dich wieder belästigt?«

»Nein, nicht mehr als sonst.« Aber ich sagte es zu schnell und glaubte es nicht genug, um ihre Neigung zu täuschen.

Ihre Miene verfinsterte sich.

Die Sonne ging bereits unter, als wir die Straße zu unserem Dorf erreichten. Wir hatten noch einen langen Weg vor uns.

»Du kannst fliegen, wenn du willst«, bot ich Cailis an, als wir die engen Gassen endlich hinter uns gelassen hatten.

»Und dich allein gehen lassen? Niemals.« Sie drückte sanft meinen Arm.

Schuldgefühle brannten wieder unter meiner Haut, aber ich diskutierte nicht mit ihr. Es war sowieso egal, ob ich es tat. Sie entschied sich immer dazu, an meiner Seite zu bleiben.

 

Es dauerte zwei Stunden, bis wir unser kleines Haus am Rande des Dorfes erreichten. Schnee bedeckte den Vorgarten und die alten Holzbretter unserer einstöckigen Kate brauchten einen neuen Anstrich, aber das Dach war stabil und leckte nicht, die Fenster waren größtenteils unbeschädigt – bis auf eine kleine Scheibe in der Küche – und der Kamin sorgte für ausreichend Wärme. Und auch wenn unser Haus nur vier Zimmer hatte, war es das Zuhause unserer Familie. Cailis und ich waren hier aufgewachsen und ich hätte es für das gesamte Reich nicht eintauschen wollen.

»Ich mache ein Feuer«, sagte Cailis, als wir den Rand unseres Grundstücks erreichten.

Ich hauchte meine Hände an, um sie zu wärmen. Während unseres gesamten Weges hatte es stark geschneit und die Temperatur war um mindestens zehn Grad gefallen. Die dünnen Handschuhe, die ich trug, reichten nicht aus.

»Kommst du mit rein?«, fragte Cailis, als ich ihr nicht folgte.

»Ich schaue zuerst nach dem Garten. Ich komme gleich nach.«

»Aber ein Sturm zieht auf.«

»Ich weiß. Es wird nicht lange dauern.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Nur weil wir mit leeren Händen nach Hause gekommen sind, heißt das nicht, dass du heute Abend im Garten arbeiten musst. Du musst genauso müde sein wie ich.«

Ich lächelte und zwang meine Stimme dazu, fröhlich zu klingen. »Ich bin gar nicht müde. Mir geht’s gut. Ich bin gleich da.« Ich wartete nicht darauf, dass sie mir widersprach, sondern lief weiter.

Ich hörte ihren lauten Seufzer, aber nun, da ich sie nicht weiter behinderte, konnte sie fliegen. Mit ihren schwarzen Flügeln hob sie mühelos vom Boden ab und segelte die restliche Strecke bis zu unserer Haustür.

Innerhalb von Sekunden war sie drinnen und mein Magen zog sich zusammen, weil ich wusste, dass sie ohne mich schon vor Stunden zu Hause gewesen wäre.

Ich presste meine Lippen fest aufeinander und eilte durch den zehn Zentimeter dicken Pulverschnee, der meine Zehen taub werden ließ. 

Klopfende Geräusche kamen aus dem Inneren unseres Hauses und Licht schien durch die hinteren Fenster. Cailis schichtete Holz für das Feuer auf und dank eines Nachbarn, der uns einen Teil seiner Feuerelementar-Neigung geschenkt hatte, brannte es in Sekundenschnelle. Danach kramte sie in den Küchenschränken, wahrscheinlich auf der Suche nach etwas Essbarem.

Ich ging zum Schuppen, um ein paar Gartengeräte herauszuholen. Wahrscheinlich konnte es bis zum Morgen warten – und wahrscheinlich dachte Cailis, dass ich nur hier war, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen –, aber ich hatte das Gefühl, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, um die Akorlis zu ernten. Wenn man sie rechtzeitig ausgrub, hatte das dicke Wurzelgemüse eine unvergleichliche Süße.

Die Tür des Schuppens ächzte, als ich versuchte, sie gegen den angesammelten Schnee zu öffnen. Ich benötigte mehrere Züge, aber schon bald hielt ich die schweren Werkzeuge in meinen Armen. Sie klirrten, als ich sie mir über die Schulter hievte.

Wütend aussehende indigo- und marineblaue Wolken wirbelten über uns. Ein Sturm war definitiv im Anmarsch, denn der nördliche Himmel verdunkelte sich mit jeder Sekunde, die verging. Aber der Reichtum meines Gartens, der vor mir lag, milderte meine Angst vor dem bevorstehenden Winter.

Ich trat über den Rand meines Feldes und ein Kribbeln der Magie strich über meine Haut wie eine alte Freundin, die mich begrüßte.

Um mich herum leuchteten meine Pflanzen in einem Regenbogen von Farben: Smaragdgrün, leuchtendes Blau-violett, gebranntes Orange, strahlendes Magenta und sonniges Gelb. Jedes Gemüse, jede Frucht, jedes Getreide und jede Pflanze gedieh in dem reichhaltigen Boden, der in unserem gefrorenen Land mit Orem gesegnet war. Beim Anblick meiner Pflanzen fühlte ich mich zu Hause.

»Hallo, Freunde«, flüsterte ich. Ich fuhr mit den Händen über die weichen Blütenblätter einer Beerenpflanze, zupfte ein Blatt ab und studierte die feinen Adern, die sich hindurch schlängelten. Das Blatt ließ sich leicht in meiner Handfläche biegen, was bedeutete, dass es nur noch wenige Tage dauerte, bis es reif war. »Ich komme noch früh genug zu dir, Kleines.«

»Brauchst du Hilfe mit den Werkzeugen, süße Ilara?«, rief ein Mann hinter mir.

Als Nächstes traf mich sein Duft – Nelken und Tabak.

Ich erstarrte und ließ das Blatt fallen. Es flatterte zu Boden inmitten der Schneeflocken, die noch immer vom Himmel fielen. Aber die blühende Magie in meinem Garten sorgte dafür, dass der meiste Schnee verdunstete, bevor er den Boden erreichte.

Mein Atem ging schneller. Ich wollte ihm nicht gegenübertreten, aber wenn ich es nicht tat, würde er mir bis an den Rand meines Gartens folgen, wo ich ihm allein und ohne Magie ausgeliefert wäre.

Es wäre nicht das erste Mal.

»Nicht nötig, Vorl.« Ich drehte mich langsam zu ihm um.

Der glatte Teint des Dorfvorstehers erinnerte mich immer an Weizen im Frühling. Seine kühlen blauen Augen verbargen ein Herz aus Eis und seine ledernen und von Muskeln durchzogenen schwarzen Flügel waren so groß, dass sie beinahe über den Boden schleiften. Wie alle anderen Solis-Fae hatte er fast weißes Haar. Im schwindenden Licht des aufkommenden Sturms schimmerte es leicht silbern.

»Warum bist du nicht bei der Ratsversammlung?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich gegen meinen Schuppen. In der Hand hielt er ein Stück Brot und aß es träge. Der Geruch und wie es aussah ...

Ich wurde stutzig. »Wie ich sehe, hast du dir wieder Zutritt zu unserem Haus verschafft. Genießt du den letzten Rest unseres Brotes?« Ich warf einen kurzen Blick über seine Schulter.

Und tatsächlich, Cailis war durch ihr Schlafzimmerfenster zu sehen. Sie räumte gerade die Wäsche weg und hatte wahrscheinlich keine Ahnung, dass Vorl durch die Vordertür hereingekommen war und sich den letzten Rest unseres Brotes genommen hatte. Der große Fae-Mann konnte sich durch seine starke Magie so lautlos wie der Wind bewegen.

Vorl steckte sich den letzten Bissen Brot in den Mund. »Sehr sogar. Es ist fast so lecker wie du.«

Er stieß sich vom Schuppen ab und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ein magischer Impuls ging von ihm aus, als er seine Finger aneinander rieb. Seine Magie wischte die Butter und die Krümel von seinen Handflächen und säuberte seine Haut.

Einen Moment lang war ich neidisch darauf, wie mächtig er war, und ich wollte mich dafür treten. Von allen Fae in meinem Dorf, auf die ich neidisch sein konnte, sollte es nicht er sein. 

»Machst du spätabends noch Gartenarbeit?«, fragte er und nickte mir zu.

Mein Griff um die Werkzeuge wurde fester. »Nein, ich wollte gerade wieder reingehen. Das Wetter wird ...«

»Lüg mich nicht an, Ilara.« Seine Stimme wurde eisig. Brutal. Die Bestie in ihm flackerte in seinen Augen auf, denn genau das war er auch. Eine herzlose, grausame, rachsüchtige Bestie von einem Fae.

Ich zuckte zusammen und ein Flackern von perversem Vergnügen leuchtete in seinen Augen auf.

Zeig keine Schwäche. Zeig ihm keine Schwäche. Ich straffte die Schultern und hob mein Kinn. »Ich lüge nicht.«

Mit einer so schnellen Bewegung, dass ich sie nur verschwommen wahrnahm, schloss sich seine Hand um meine Kehle. Meine Werkzeuge klapperten zu Boden und ein Donnerschlag erschütterte das Land.

Er wirbelte mich so schnell herum, dass sich die Welt um mich herum drehte. Ein Sekundenbruchteil verging, dann knallte ich mit dem Rücken gegen den Schuppen. Sein Griff um meinen Hals verstärkte sich. Der einladende Zauber meines Gartens war im Nu verschwunden, da wir die Grenze überquert hatten. Der eisige Wind schnitt mir in die Wangen und die kalten Bretter des Schuppens drückten gegen meinen Rücken. Mein Herz klopfte wie wild, während ich nach Luft rang. Ich strampelte und kämpfte gegen ihn an, so gut ich konnte, aber es nützte nichts.

Vorl überwältigte mich immer.

Er lehnte sich dicht an mich heran, bis kein Platz mehr zwischen seinem harten Körper und meinem war. Meine kleinen Brüste wurden zusammengedrückt und das sadistische Licht in Vorls Augen brannte immer heller. Ein Würgen stieg meine Kehle hoch, aber es blieb in mir gefangen, als Vorl fester zudrückte.

»Lüg mich nicht an, süße Ilara. Du weißt, wie sehr es mir missfällt, wenn du das tust. Ich weiß, dass du dich gerade um deinen Garten kümmern wolltest. Wir beide wissen, dass das Wetter deinem Land nichts anhaben kann. Oder glaubst du, ich hätte das nicht bemerkt?« Er verstärkte den Druck und ich krallte mich noch mehr in seine große Hand, aber er rührte sich nicht.

»Lara?« Der entfernte Ruf meiner Schwester kam aus dem Haus.

Blitzschnell ließ Vorl mich los und vergrößerte den Abstand zwischen uns. Ich schnappte nach Luft. Meine Kehle brannte, als ich hinter dem Schuppen hervorkroch, gerade als meine Schwester aus unserem winzigen Haus trat.

 »Sag es niemandem. Oder du weißt, was passiert.« Der sadistische Glanz in seinen Augen leuchtete wieder auf und das schwere Gewicht seiner Magie legte sich auf mich. 

Wärme brannte in meiner Kehle. Der Geruch seines Zaubers umgab mich wie eine schwere Wolke. Ich wusste, dass er die blauen Flecken, die er mir zugefügt hatte, nur versteckt hatte, denn Vorl hatte eine Neigung zur Illusion. Er beherrschte sie wie kein anderer. 

Cailis wurde schneller, während sie sich durch den knirschenden Schnee unseres kleinen Gartens bewegte. Als sie Vorl sah, blieb sie stehen und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Was machst du denn hier?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin gerade hier auf dem Weg ins Dorf vorbeigeflogen, als ich gesehen habe, wie Ilara mit ihrem Werkzeug gekämpft hat. Ich habe ihr meine Hilfe angeboten.«

Cailis’ Blick fiel auf die Werkzeuge, die im Dreck lagen und mehrere Beerenstängel unter ihrem Gewicht verbogen. Langsam richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Vorls arglose Miene. »Wenn Lara Hilfe braucht, kann ich das machen.«

Die Finger meiner Schwester trommelten gegen ihre Oberschenkel und ihre Flügel spannten sich an. In einem Kampf gegen Vorl würde sie keine Chance haben, aber sie würde bei dem Versuch untergehen, ihn zu besiegen.

»Vorl war gerade dabei zu gehen, nicht wahr?« Ich versuchte, laut zu sprechen, aber meine Stimme kam nur heiser aus meiner Kehle. Hastig lief ich zurück in meinen Garten und zog vorsichtig meine Werkzeuge aus der Beerenpflanze. Magie umhüllte mich. Vertraute, warme, tröstliche Magie pulsierte aus dem Land meines Gartens und ein Teil der Anspannung fiel von meinen Schultern ab.

Vorl räusperte sich und ich drehte mich wieder zu ihm und meiner Schwester um.

Cailis beobachtete ihn noch immer. Gelassen. Bereit.

Er verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen. »Dann ein anderes Mal.«

Er warf mir einen letzten warnenden Blick zu, bevor er seine Flügel anspannte und in den Himmel schoss.

Die Energie, die von meiner Schwester ausging, verpuffte. »Er ist ein verdammter Mistkerl«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ja.«

Gegen den aufkommenden Sturm wirkte Vorls Umriss wie ein Gespenst im Wind. Er flog hoch und schnell, schon so weit weg, dass er nur noch eine kleine Gestalt am Himmel war. Nein, nicht eine Gestalt. Er war eher wie ein dunkler Dämon, der aus der Unterwelt gekommen war, um meine Seele zu verwüsten.

»Geht es dir gut?« Cailis half mir, meine restlichen Werkzeuge einzusammeln.

»Gut. Mir geht es gut«, sagte ich fest.

Sie musterte mich. Ihre Augen wanderten meinen Hals hinunter und meinen Körper entlang, obwohl meine abgetragene Kleidung und der dicke Umhang meine Gliedmaßen und meinen Oberkörper verbargen. Mein Hals lag frei, aber Vorls Illusions-Neigung war stark und verbarg die blauen Flecken, die sich zweifellos auf meiner Haut gebildet hatten.

Ich schenkte meiner Schwester ein – wie ich hoffte – beruhigendes Lächeln. »Geh wieder rein und wärm dich auf. Ich brauche nur einen Moment. Es wird nicht lange dauern, die Akorlis auszugraben.«

»Aber ...«

»Es ist in Ordnung, Cailis. Das ist es wirklich.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ich muss nicht immer gerettet werden. Ich bin nicht verletzt. Siehst du?« Ich streckte die Arme aus und neigte meinen Hals, obwohl mir die Kehle wehtat. Es war ein so vertrautes Gefühl, dass ich es kaum bemerkte. Mich zu würgen war eine von Vorls Lieblingsbeschäftigungen, wenn er mit mir allein war. Das war schon so, seit wir Kinder gewesen waren.

Cailis runzelte immer noch die Stirn, aber nachdem sie mich ein zweites Mal begutachtet hatte, zuckte sie schließlich mit den Schultern.

Als sie wieder im Haus verschwunden war und die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, breiteten sich Schuldgefühle wie ein Lauffeuer in meinen Adern aus. Cailis hatte so oft versucht, mich vor Vorl zu retten. Keiner der anderen Dorfbewohner wusste, wie sehr mich der Rüpel quälte. Ich hatte versucht, es ihnen zu sagen. Einmal. Aber Vorls Vergeltung hatte jedes weitere Aufbegehren meinerseits schnell zunichte gemacht. Schließlich war er der Vorsteher unseres Dorfes und hatte mehr Macht als ich.

Das hielt mich zwar nicht davon ab, mich jedes Mal zu wehren, wenn er mich festhielt. Aber ich war nie stark genug, um mich zu befreien. Zumal ich keine Magie besaß und das wusste der Bastard. Das war zweifellos der Grund, warum er mich zu seinem Lieblingsopfer auserkoren hatte.

Allein in unserem Garten hielt ich mein Werkzeug fest in der Hand. Schnee flog im Wind und jagte über den Boden, als der Sturm losbrach.

Doch sobald ich über die magische Grenze meines Gartens trat, war der Sturm verschwunden. Wärme strömte über meine Haut, als mich mein kleines Stückchen Land in seinem Schoß willkommen hieß. Ich nahm mir einen Moment Zeit und genoss die Energie des Gartens, die in meine Seele floss.

Ich benutzte sie, um meinen Atem zu beruhigen, denn ich hasste es, die Schwache zu sein. Diejenige, die anders war. Diejenige, die weniger war.

Eine echte Unbrauchbare.

Aber ich war gut im Gärtnern und es würde uns vor dem Verhungern bewahren.

Am Ende des Tages war das das Wichtigste.

Der Sturm tobte über meinem Garten. Die schwarze Erde fühlte sich so weich wie Butter an, als ich mit meinen Fingern hindurchfuhr. Ich summte und sang leise für die Akorlis, während ich eine nach der anderen des reifen, großen Wurzelgemüses von seiner unterirdischen Ranke pflückte.

Die orangefarbene Schale der Akorlis leuchtete wie die Sonne und ich stopfte sie tief in die Taschen meines Mantels. Dabei dankte ich der Pflanze für ihr Leben, das unsere leeren Bäuche den langen Winter hindurch füllen würde.

Trotz des wütenden Sturms arbeitete ich, bis es so dunkel war, dass ich die dicke Ranke kaum noch sehen konnte, die sich durch den Boden schlängelte. Ich hatte über drei Meter davon aus dem Boden gezogen und immer noch nicht das Ende gefunden.

»Du bist ganz schön in unsere Mutter hineingewachsen, nicht wahr, meine Freundin?«, murmelte ich ihr zu. Dann stand ich auf und strich den Schmutz von meiner Hose und meinem Umhang. »Ich befürchte, ich muss morgen weitermachen. Ich denke, wir sollten uns jetzt beide ausruhen. Findest du nicht auch?«

Ich gab der Akorlis einen sanften Klaps, bevor ich zum Schuppen eilte, um einen großen Eimer zu holen. Schnee und Eis stachen wie Nadeln in meine Haut, als ich über die Grenze meines Gartens trat. Es war so kalt, dass mir für einen Moment der Atem stockte.

Ich schloss die Augen gegen den beißenden Sturm und machte mich vorsichtig auf den Weg zurück in meinen Garten. Nachdem ich den Eimer mit dem saftigen Gemüse gefüllt hatte, hatte ich Mühe, unter dem schweren Gewicht aufrecht zu stehen.

Draußen auf dem Feld tobte der Wind, aber trotz des Sturms leuchtete mein Garten wie eine Oase, die Farben hell und schön inmitten der Winterlandschaft.

»Auf Wiedersehen, meine Freunde. Wir sehen uns morgen«, rief ich, als ich den Rand meines Gartens erreichte.

Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen, obwohl meine Arme ächzten und mein Rücken schmerzte. Ich hielt den Eimer fest umklammert, während ich mühsam durch den Schnee zum Haus stapfte.

Dort angekommen, trat ich die Hintertür auf. Im selben Moment kroch mir eine Gänsehaut über den Nacken.

Ich fuhr herum. Cailis sprang von ihrem Stuhl am Feuer auf und riss mir den Eimer aus den Händen.

»Worauf wartest du?«, fragte Cailis und versuchte, mich ins Haus zu ziehen.

Meine Füße standen auf der Schwelle. Nichts als Dunkelheit, Kälte und aufgewirbelter Schnee starrten mich aus unserem Garten an. Aber ich spürte ... etwas.

Ich schüttelte den Kopf und rieb mir den Nacken. »Nichts«, sagte ich verlegen. »Einen Moment lang ... habe ich gedacht, dass ich beobachtet werde. Aber da draußen ist niemand. Es ist nichts.«

Cailis verdrehte die Augen. »Du bist wahrscheinlich nur müde. Du hast über zwei Stunden lang gearbeitet. Komm mit rein und wasch dich erstmal.« Ihr Blick fiel auf den Eimer mit Akorlis und ihre Augen weiteten sich. »So viele!«

»Es gibt noch mehr. Das ist nur von einer Rebe.«

»Von einer?« Cailis’ Augenbrauen schossen an ihren Haaransatz. »Hast du diesen Sommer nicht sechs Akorlis-Samen gepflanzt?«

»Ja.«

»Du meinst, es könnte sechsmal so viel sein? Aber allein dieser Eimer ist das, was ein Dutzend Reben normalerweise hervorbringen.«

»Ich weiß. Erstaunlich, nicht wahr?« Ich grinste. »An der ersten Rebe ist auch noch mehr dran. Es ist so dunkel geworden, dass ich nicht mehr fertig geworden bin.«

»Wie ist das möglich?«

Ich zuckte mit den Schultern und schloss schließlich die Tür hinter mir. Die Wärme des Feuers küsste meine Wangen. »Die Mutter hat uns gesegnet.«

Ein hoffnungsvoller Ausdruck stahl sich auf Cailis’ Züge. »Wenn es wirklich so viele sind, wie du sagst, werden wir diesen Winter bestimmt nicht verhungern.«

Ich zog meinen schneebedeckten Umhang aus und hängte ihn neben dem Feuer zum Trocknen auf. Dann löste ich mein geflochtenes Haar und fuhr mit den Fingern durch die weichen Locken, ohne auf ihre peinliche schwarze Farbe zu achten.

Cailis schüttelte den Kopf. Sie starrte gebannt auf den Eimer, ihr Gesicht immer noch voll Verwunderung. »So viele.«

Ich hielt meine Hände ans Feuer, um sie zu wärmen, und mein Lächeln kehrte zurück.

Cailis nahm ein paar Akorlis und legte sie auf den Tresen, bevor sie aufgeregt umherschwirrte. »Die werden köstlich sein, wenn man sie mit Sirup beträufelt. Ich glaube, wir haben noch ein wenig übrig. Ich werde ein paar für das Abendessen kochen, während du dich wäschst.«

Nachdem ich meine feuchten Hände abgetrocknet hatte, machte ich mich auf den Weg in die Badekammer, wo ich meine schmutzigen Sachen auszog. Ein Topf mit Wasser hing über dem Feuer in der Kammer und eine Gänsehaut überzog meine Haut in der kalten Luft, während ich darauf wartete, dass es warm wurde. Gedankenverloren spähte ich durch den Vorhang am Fenster. 

Als ich nach draußen schaute, überkam mich wieder dieses seltsame Gefühl. Irgendetwas war da draußen.

Es beobachtete mich. Es wartete.

Aber alles, was mich im Glas anstarrte, war mein eigenes Spiegelbild, während draußen der Sturm weiter tobte.

Fröstelnd ließ ich den Vorhang fallen.

 

Ich hielt meine Schüssel fest. Cailis und ich warteten in der Schlange vor der Feldküche unseres Dorfes. Die große Scheune, die nur aus einem Raum bestand, war unser einziger Unterschlupf und damit der einzige Ort, an dem wir uns während unserer Arbeitspausen ausruhen konnten. Die Holzbänke und stabilen Tische, die sich durch den Raum zogen, waren eine willkommene Abwechslung zu den langen Tagen auf den Beinen.

Der Wind heulte immer noch durch die senkrechten Wandlatten der Scheune, da sie nicht perfekt abgedichtet waren. Aber im Herd brannte immer ein Feuer und die Flammen unter den Töpfen der Köche vertrieben die Kälte aus der Luft.

Um mich herum warteten die anderen Feldarbeiter aus meinem Dorf geduldig darauf, dass ihre Schüsseln gefüllt wurden. Diejenigen, die vorne in der Schlange standen, scherzten und lachten, während die hinteren verärgert dreinblickten. Wenn sie ihr Essen bekommen würden, würden sie nur noch wenige Minuten Zeit haben zu essen, bevor die Glocke schlug und sie zur Ernte zurückkehren mussten.

Es war ein harter Morgen, denn der Sturm vom Wochenende hatte zwei Tage lang gewütet und fast einen Meter Schnee angehäuft. Während des Sturms gestern hatte niemand fliegen können, weil die Luftströmungen zu stark waren, aber heute brannte die Sonne hell und ließ den Herbstschnee schnell schmelzen.

Doch selbst das Orem unseres Feldes hatte nicht ausgereicht, um den Schnee vollständig zu entfernen, wie es im Winter stets der Fall war, aber jetzt, im Herbst, eher selten. Also hatten wir den größten Teil des Morgens damit verbracht, den Schnee von den Feldern zu räumen. Zum Glück leuchteten die Pflanzen unter den schweren weißen Flocken hell und gesund. Ihre Blätter schienen sich vor meinen Augen auszubreiten und begrüßten die tiefstehende Sonne, die ihre Stängel küsste. Der Anblick zauberte mir immer ein Lächeln auf die Lippen.

»Gut, dass wir heute unsere dicken Stiefel anhaben«, sagte Cailis. Sie hatte ihre Flügel um ihre Oberarme gelegt, um sich zusätzlich zu wärmen.

Ich zog den Schal fest, der meinen Kopf bedeckte, und achtete darauf, dass er immer noch tief über meine Stirn gezogen war. Jeder in meinem Dorf kannte meine Haarfarbe, aber ich wollte trotzdem nicht, dass sie sie sahen.

»Ja, das habe ich mir auch gedacht. Meine Zehen ziehen sich schon bei dem Gedanken zusammen, was der Winter bringen wird.« Ich klopfte auf meine Arbeitsstiefel und Schnee fiel von ihnen.

»Glaubst du, dass es heute Fleisch in der Brühe gibt?«, fragte Birnee hoffnungsvoll. Sie zog mich näher zu sich und schlang einen Flügel um mich. Wie alle Solis-Fae in meinem Dorf war ihr Haar silbrig weiß und ihre Augen blau. Ihre Flügel waren klein und zierlich, so wie sie selbst, aber sie strahlten trotzdem Wärme auf meine kalte Haut aus. »Letzte Woche hat es am ersten Tag auf den Feldern nach dem Wochenende Fleisch gegeben.«

Finnley lachte leise und tief. Er schenkte ihr ein schelmisches Grinsen. »Das war nur, weil ein Schneefuchs in den Stall vom alten Dorn eingedrungen ist und die meisten seiner Hühner gefressen hat. Sie haben gerettet, was sie von den Kadavern retten konnten. Rechne nicht damit, dass das ein zweites Mal passiert.«

Birnee verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Puh. Ich hatte mich schon darauf gefreut.«

Ich drückte ihre Hand und begegnete ihrem Blick, was leicht war, da wir ähnlich groß waren. »Wir könnten wieder auf die Jagd gehen und sehen, ob wir einen Hasen fangen. Wenn wir es schaffen, können wir zusammen zu Abend essen.«

»Gilt das Angebot auch für mich?«, fragte Finnley und stieß mich spielerisch mit dem Ellbogen an.

Cailis verdrehte die Augen. »Nein, du wirst wahrscheinlich das ganze Ding mit einem Bissen verschlingen.«

Finnley legte eine Hand auf seine breite Brust. »Willst du sagen, dass ich fett bin?«

Ich beäugte seine große Gestalt, die alles andere als übergewichtig war. Der Einzige in unserem Dorf, der größer war als Finnley, war Vorl, und ihre imposante, männliche Statur kam nicht daher, dass sie weich waren.

Cailis stieß ein schnaubendes Lachen aus. »Wenn wir nur den Luxus hätten, fett zu sein!«

Birnee kicherte und das Geräusch drang durch die Dachsparren.

Vorl beobachtete mich von der Ecke der Scheune aus. Er stand bewegungslos da, während er Wache hielt. Als Vorsteher unseres Dorfes war es seine Hauptaufgabe, dafür zu sorgen, dass die Arbeit pünktlich erledigt wurde und unsere Erträge den vierteljährlichen Anforderungen des Winterhofs entsprachen. Das bedeutete, dass er jede Gelegenheit nutzte, um jeden Feldarbeiter zu schikanieren und zu demütigen, der nicht schnell genug arbeitete.

Ich grummelte, als er meine Bewegungen verfolgte. Natürlich war ich sein Lieblingsopfer, auch wenn ich hart arbeitete. Er hatte mich auf dem Feld nie körperlich angegriffen, solange andere dabei waren, aber allein war das eine andere Sache.

»Warum kann er mich nicht einfach mal einen Tag in Ruhe lassen?«, murmelte ich meiner Schwester zu. Hinter uns unterhielten sich Birnee und Finnley über die bevorstehenden Winterrennen und irgendeine königliche Prüfung, die nächsten Monat in der Hauptstadt stattfinden sollte.

»Ignorier ihn. Hier kann er dir nicht wehtun«, antwortete Cailis.

Ich griff mir an die Kehle. Obwohl seit Vorls Besuch in meinem Garten zwei Tage vergangen waren, hielt sein Illusionszauber an. Die blauen Flecken, die sich auf meiner Haut ausgebreitet hatten, waren nicht zu sehen, aber jede Berührung an der Stelle ließ mich zusammenzucken.

Seufzend ließ ich meine Hand fallen und zog meinen Mantel fester um mich, als wir an der Reihe waren. In gewisser Weise war ich dankbar, dass Vorls Neigung so stark war. Sonst hätten alle gesehen, was er mir angetan hatte. Das hätte sie nur daran erinnert, dass ich unbrauchbar war und keine Magie hatte, um mich zu wehren.

Der Duft der heißen Suppe lag in der Luft und mein Magen knurrte in Erwartung. Die beiden älteren Fae-Männer vor uns streckten ihre Schüsseln hin und ich spielte mit meiner. Ich war die Nächste.

Dampf umhüllte Krisils Gesicht, während sie die Feldarbeiter bediente. Ihre Flügel waren eng an ihren Rücken gelegt. Die Hitze der Brühe stieg um sie herum in feinen Dampfschwaden auf.

»Es heißt, er war gestern in Firlim und reist jetzt durch alle Dörfer in unserem Gebiet, eins nach dem anderen«, sagte Krisil zu Evis, der Köchin, die das Brot austeilte. »Zuletzt wurde er in Coolisbar gesehen.«

»Coolisbar?«, antwortete Evis. Sie schnappte sich ein Stück Brot, um es dem Mann vor mir zu geben. »Das ist nur dreißig Flugminuten von hier entfernt. Aber sie haben dort nur ein Feld. Warum sollte der Kronprinz sie besuchen?«

Ich versteifte mich. Der Kronprinz?

Krisil zuckte mit den Schultern, als sie meine Schüssel mit Brühe füllte, und warf mir kaum einen Blick zu. »Ich habe das nur gehört. Es könnten Gerüchte sein. Es wäre seltsam, jemanden aus der Hauptstadt zu dieser Jahreszeit so weit im Osten zu haben. Die Adligen des Hofes wagen sich normalerweise nicht in diese Richtung, solange wir jedes Quartal die Abgaben für unser Gebiet abliefern. Prinz Norivun hat meines Wissens noch nie einen Fuß auf die Anbauflächen des Mervalee-Gebiets gesetzt.«

Meine Hände ballten sich zu Fäusten und meine Brust zog sich zusammen. Ich hatte den Kronprinzen noch nie getroffen. Ich hatte ihn noch nicht einmal gesehen. Ich hatte nur von ihm gehört, obwohl Cailis und ich den Tod und die Zerstörung persönlich kannten, die seine schreckliche Neigung mit sich brachte.

»Was glaubst du, warum er hier ist?«, fragte Evis, während sie sich einen neuen Laib Brot schnappte.

»Das kann ich dir nicht sagen, aber ich habe gehört, dass er nach ...« Krisils Schöpfkelle blieb direkt über Cailis’ Schüssel in der Luft hängen und ihre Lippen spitzten sich vor Überraschung. »Oh, Cailis und Ilara, ich habe euch gar nicht gesehen.«

Ich lächelte dünn, obwohl mein Herz unregelmäßig schlug.

Evis legte mir ein Stück Brot auf den Teller. »Krisil, warum sollte der Prinz ...«

Krisil räusperte sich und stieß Evis mit dem Fuß an.

Evis runzelte die Stirn. »Warum in aller Welt hast du ...«

Krisil räusperte sich erneut und neigte ihren Kopf zu mir und Cailis. Wir beide standen schweigend vor ihnen.

»Oh, das sind die Seary-Mädchen.« Evis schenkte uns ein unbeholfenes Lächeln. »Ähm, Brot? Hier habt ihr es. Ich gebe euch beiden heute sogar noch etwas mehr.« Die Köchin legte eilig zwei der größten Brotstücke auf unsere Teller neben unsere Schüsseln mit Brühe.

Cailis und ich tauschten einen gequälten Blick, bevor wir die Schlange verließen und zu dem Tisch gingen, an dem wir immer saßen. Birnee und Finnley folgten uns schnell. Beide lächelten übertrieben fröhlich, als sie sich über den Herbstball in Firlim unterhielten, der nur noch wenige Wochen entfernt war. Keiner von uns war je dort gewesen, aber das hatte uns nie davon abgehalten, darüber zu reden, auch wenn Finnley es für eines der langweiligsten Themen auf dem Kontinent hielt.

Aber obwohl ich wusste, dass unsere Freunde uns von dem ablenken wollten, was Krisil und Evis enthüllt hatten, hatten Cailis und ich Mühe, in unser übliches Geplänkel darüber zu verfallen, wer was anziehen und mit wem tanzen würde. Stattdessen brummten wir nur und nickten, sobald unser Schweigen unangenehm wurde.

»Es ist unmöglich, dass er wirklich hier ist«, platzte Finnley schließlich heraus. »Das sind wahrscheinlich nur Gerüchte. Du weißt ja, wie es in den Dörfern ist.«

»Fin!«, zischte Birnee.

»Was?« Er hob die Hände. »Warum reden wir um den heißen Brei herum, wenn wir alle wissen, warum sie aussehen, als hätten sie Geister gesehen?«

Unter dem Tisch fand Cailis’ Hand meine. Ich drückte sie fest. Es fühlte sich an, als ob mir das Brot im Hals stecken bliebe.

»Fin, kein Wort mehr. Ich meine es ernst!«, warnte Birnee ihn, und ihre blauen Augen blickten ihn finster an.

Schließlich seufzte er und nickte in Richtung des zweiten Brotstücks auf meinem Teller. »Isst du das noch?«

Birnee verdrehte die Augen, als ich es ihm überreichte. Doch bevor sie ihn ermahnen konnte, ertönte das Geräusch von schweren Stiefeln vor der Scheunentür.

Vorl stieß sich von der Wand ab und runzelte die Stirn, als die Tür sich öffnete.

Schnee flog ins Innere, hereingetrieben von einer leichten Böe aus dem Norden. Ein paar Dorfbewohner schrien auf und beschwerten sich. Aber in dem Moment, in dem der Neuankömmling über die Schwelle trat und die blendende Sonne verdunkelte, die sich im Schnee draußen spiegelte, verstummten alle.

Mein Herz klopfte in meiner Brust, als der hochgewachsene Mann den Raum absuchte. Seine saphirblauen Augen waren schmal und abschätzend. Eine gebieterische, mächtige Aura ging von ihm aus. Seine riesigen, muskulösen Flügel aus schwarzem Leder, die in Krallen abschlossen, hielt er eng am Rücken. Seine Größe ließ die anderen Fae-Männer im Raum klein erscheinen.

Der Neuankömmling trug die Farben des Winterhofs: schwarz, silber und blau. Eine dicke Tunika spannte sich über seine breite Brust und das Siegel des Hofes prangte stolz auf seinem Arm.

Cailis’ Hand packte meine noch fester und mir brach am ganzen Körper der Schweiß aus.

Alle um den Mann herum verbeugten sich und der Rest von uns senkte die Köpfe.

Denn der Kronprinz des Winterhofs hatte gerade die Dorfscheune betreten. Der Bringer der Dunkelheit selbst befand sich unter uns.

Die Gerüchte stimmten also doch.